Ägypten, das ist das Land am Nil, wo es Pyramiden und Gräber voller Gold und Mumien gibt. Ein idealer Ort, an dem die Zeit irgendwie stehengeblieben ist. Oder zumindest ein Ort, wo man zumindest für einige Tage oder Wochen gerne in der Vergangenheit gelebt hätte. Vielleicht am Hof des Cheops oder des Ramses oder gar der Kleopatra. Dann wüßte man(n) endlich, ob die Herrscherin wirklich so schön oder doch nur durchschnittlich ausgesehen und ob sie sich auch Fremden hingegeben hat... Jenseits der Träume lauert die Wirklichkeit. Zumindest glaubt der Laie das, wenn er nach den Sachbüchern oder gar einem echten Fachbuch greift. Dort sollte die "Wahrheit" zu finden sein, die Realität um die harte Fronarbeit (???) beim Pyramidenbau oder die Schufterei auf den Feldern, die das Land ernährten (???). Die einzige Wirklichkeit zwischen den Buchdeckeln ist jedoch die der Autoren. Selbst Wissenschaftler sind nicht frei von Idealisierungen - gerade wenn es ihr Fachgebiet betrifft.
Ohne Namen nennen zu wollen: Ich erinnere mich noch gut an eine kleine Tagung, bei der ich den Vortrag einer Ägyptologin hören konnte. Es ging um Gewalt in den verschiedenen Kulturen. Die Dame berichtete von Texten und Darstellungen im Alten Ägypten, wobei sie diese als Spiegel der altägyptischen Realität wertete. Das ist legitim, sofern man mit den Darstellungsweisen der Kultur vertraut ist, also auch zwischen den Zeilen zu lesen weiß. Das will ich ihr nicht in Abrede stellen. Mit "Überraschung" nahm ich jedoch ihre Folgerungen zur Kenntnis: Es gebe keine tatsächliche Ausübung von Gewalt im Alten Ägypten! Nach dem Vortrag konfrontierte ich sie mit zwei speziellen Darstellungen der ägyptischen Vor- und Frühzeit, insbesondere den auf der Narmer-Palette abgebildeten toten Feinden mit den abgetrennten Häuptern zwischen den Beinen. Nein, auch das sollte kein Hinweis auf tatsächliche Gewalt sein... Bis heute frage ich mich, was die uns überlieferten Bilder der Alten Ägypter dann erzählen sollen: die Kadesch-Schlacht, ein friedliches Aufeinandertreffen? Die Reichseinigungszeit, eine lange, ereignislose Eingewöhnungsphase für Tausende von Menschen?
Daß es doch anders gewesen sein muß, daß es Gewalt und unnatürlichen Tod gegeben hat, scheint jetzt endlich oder wieder einmal belegt. Und ein aktueller Artikel im Magazin National Geographic sollte nun jeden Ägyptologen zum Umdenken bringen, der eines immer aus seinem Bewußtsein weggeschoben hat: Im Alten Ägypten gab es sogar "Menschenopfer".
Eigentlich könnte dieser Teil der altägyptischen Geschichte längst auch jedem Laien bekannt sein. Bereits vor ca. 100 Jahren fand man in Abydos merkwürdige Bestattungen neben dem Grab des Horus Aha. Dieser ist ja einer der "Gründerväter" Ägyptens und wohl der Nachfolger des sog. Reichseinigers Narmer. Beide stehen am Ende des Vereinigungsprozesses des Landes bzw. am Beginn des geschichtlichen Ägyptens (um 3000 v.Chr.). In den letzten Jahren gab es Nach- und Neugrabungen, um mehr über Abydos v.a. in der Reichseinigungszeit zu erfahren. So kam es auch zu den spektakulären Entdeckungen um König Skorpion (den Ersten!) und die Entwicklung der Schrift. Weniger spektakulär scheint die Ergrabung eines sog. Talbezirkes, der abseits des eigentlichen Grabes liegt, doch zum größeren Grabkomplex des Horus Aha gehört. Dort fand man Bestattungen, die dort eigentlich nicht hingehören sollten, wenn man mit späteren Zeiten vergleicht. Insgesamt weiß man mittlerweile gar von 41 Menschen nicht älter als ca. 25 Jahre, die wohl zum Todeszeitpunkt des Herrschers in seiner Nähe bestattet wurden, sechs in seinem Talbezirk, fünfunddreißig bei seinem Grab. Es gibt sogar Indizien, daß diese Personen erdrosselt wurden. Einige wenige Nachfolger Ahas haben ebenfalls Beibestattungen von Menschen erhalten. Eigentlich unwahrscheinlich, daß zum einen Begräbnisse noch Jahre nach der Hauptbestattung des Herrschers stattfanden, zum anderen daß es keine älteren Toten gegeben haben soll... Die Folgerung: All diese Menschen folgten dem König mehr oder minder freiwillig in den Tod.
Man muß nicht denken, daß diese jungen Leute gewaltsam dem Leben entrissen wurden. Die "Opferung", um wahrscheinlich dem Herrscher im Jenseits zu dienen, kann ebenso unter Zustimmung erfolgt sein. Vielleicht konnten sich diese Menschen nichts Schöneres vorstellen, als dem König in ein besseres jenseitiges Leben zu folgen, fernab des natürlichen Alterungsprozesses und menschlichen Leidens, das im Diesseits auf sie warten mochte. Es war ja in dieser frühen Geschichtsperiode nicht sicher, daß auch dem "Normalsterblichen" das Jenseits offenstand. Ging man allerdings mit dem Herrscher in den Tod, war man sich eines ewigen Lebens hingegen ziemlich sicher. - Zugegeben ist auch das moderne Theorie. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Die Bewertung dieses Geschehens darf nicht mit heutigen Moralmaßstäben erfolgen. Wir wissen nicht, wie die Alten Ägypter die "Menschenopferung" empfanden. Tatsache ist nur, daß sie nach wenigen Generationen aufgegeben wurde. Andererseits gibt es solche Fälle von Opfertod auf der ganzen Welt, bei verschiedensten Kulturen und zu unterschiedlichen Zeiten, durchaus nicht immer freiwillig.
Verabschieden sollten wir alle uns vom Bild eines idealen Alten Ägyptens. Dort gab es Krieg. Ohne Kampfhandlungen wäre Ägypten nie zu einem Großreich geworden, weder 5000 Jahre vor unserer Zeit noch in späteren Dynastien. Es wurde Blut vergossen, wahrscheinlich mehr, als mancher Ägyptologe verträgt. Es gilt dennoch nicht, sich völlig vom Bild friedlichen Nillebens zu verabschieden. Man sollte sich nur bewußt sein, daß Gewalt ein menschliches Phänomen ist, das es überall gibt - auch und gerade im Alten Ägypten.
28. Juni
2005
Christine Fößmeier
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