Vor 5000 Jahren vereinigte König Menes Ägypten zu einem einzigen Staat. So die Meinung, die sogar noch in jüngster Zeit verbreitet worden ist. Doch einen König Menes hat es vielleicht nie gegeben, und die Staatsgründung ist auch nicht das Werk eines einzelnen.
Ägypten, 3000 v.Chr.: Ägypten, ganz Ägypten jenseits von Elephantine bis zum Mittelmeer, wurde von einem gemeinsamen König regiert. Dieser war einer aus dem Gefolge des Horus, welchen man besonders verehrte. Der Herrscher ließ deshalb seinen Namen in ein palasthofartiges Feld unter dem auf der Fassade hockenden Falken schreiben. Jawohl, man schrieb, denn man bediente sich bereits der Hieroglyphen. Diese dienten der "Datenerfassung". Verwaltungsakte, insbesondere die Überprüfung von Gütern, sowie Orts- und Jahresangaben ließen sich mit ihnen niederlegen. Schließlich ging es nicht nur um innerstaatliche Angelegenheit bis hin zur Erfassung von Abgaben und Steuern sondern darüberhinaus um den Handel mit dem Ausland. Seit über 100 Jahren bei der Elite des Landes besonders begehrt war Wein aus dem palästinensischen Raum. Den gab man den toten Herrschern sogar mit in ihr Grab, damit sie ihn selbst im Jenseits noch genießen konnten.
Ägypten bestand nicht mehr aus einzelnen Gebieten, die von Häuptlingen beherrscht wurden. Eine Reihe fähiger Männer hatte im Laufe vieler Jahrzehnte die einstmals kleinen Gebiete zu immer größeren Gebilden zusammengeschlossen. Zuletzt lehnten sich selbst die "Kiebitz-Leute" nicht länger gegen die Mächtigen aus dem Süden auf - zumindest nach offiziellen Angaben und für einige Zeit. Ägypten wurde zu einem der ersten (zentralistischen) Staaten der Erde.
Die neuen Könige begannen, die Künste zu fördern und umgaben ihren Hof mit begabten Handwerkern. Deren Namen sollten für immer unbekannt bleiben, doch 5000 Jahre später fand man die von ihnen geschaffenen Kunstwerke wieder: prachtvolle, für den Tempel von Nechen (später Hierakonpolis, die "Falken-Stadt") geschaffene Votivgaben in Form überdimensionierter Schminkpaletten und Keulenköpfen. Sie waren mit Reliefs versehen, die eines gegenüber den Göttern beweisen sollten: Die auf ihnen dargestellten Könige hatten ihre Feinde und damit das Chaos besiegt. Endlich herrschte "Maat", die göttliche Ordnung.
Die Götter wurden in Schreinen und Tempeln in ganz Ägypten verehrt. Noch wurden solche Bauwerke nicht aus dem dauerhaften Stein erbaut. Das sollte erst eine Entwicklung sein, die König Djoser und sein genialer Bauherr Imhotep um 2700 v.Chr. in Sakkara anstießen, als der Grabkomplex dieses Königs gebaut wurde. Unbedeutend waren die frühen Verehrungsstätten deshalb keineswegs. Die Könige der Reichseinigungszeit besuchten die wichtigsten von Zeit zu Zeit auf Fahrten durch das Land. Es entstand eine "Gedächtnis-Landschaft", in der der einzelne Ort zählte, aber auch der Weg und die Fähigkeit einer Art rituellen Umzugs quer durch Ägypten. Damit schloß der Herrscher das frisch vereinte Land zu einer Gemeinschaft zusammen, denn er war auf diese Weise für jeden zumindest zeitweise da. Als Abkömmling der Götter und Nachfolger des vergöttlichten Falken (der vielleicht einst ein bedeutender, aber sterblicher Herrscher gewesen war) garantierte er das Wohlergehen und die Fruchtbarkeit des gesamten Landes.
Horus Aha gilt als der erste König einer neuen Ära, als erster Herrscher der ersten Dynastie in Ägypten. Daß er über ein vereintes Reich gebieten konnte, verdankte er seinen Vorgängern, darunter Narmer, dessen Palette den Sieg über die letzten Widerständler im Norden darlegte, und König Skorpion. Seine Gabe an den Horus von Nechen war ein Keulenkopf, kaum weniger prachtvoll als die Narmer-Palette. Skorpion behauptete auf ihr, bereits über ein vereinigtes Ägypten zu herrschen, ein Gebiet vom nördlichen Nubien ganz im Süden bis zu den "Rechit", den "Kiebitzen" im Nil-Delta im Norden. Zwar sollte die Erinnerung an ihn, an Narmer und auch an Horus Aha im Laufe der Jahrhunderte verloren gehen, dafür jedoch verschmolzen sie im Gedächtnis des Volkes, das sie geeint hatten, zu einer einzigen, mythischen Gestalt namens Menes, des Reichseinigers.
"Narmer-Palette" Ägyptisches Museum, Kairo |
© Christine Fößmeier